Damit das Vielgefühl überhaupt entstehen kann, gibt es eine zentrale, unerlässliche und zugleich herausfordernde Voraussetzung: wir müssen unser Herz öffnen. Nur dann lassen wir zu, dass das pure Glück unser Herz überfluten kann. Es ist eine bewusste Entscheidung, die getroffen werden muss: das Herz zu öffnen und einen Austausch zuzulassen.
Wenn ich einem Pferd gegenüber trete, wenn ich beispielsweise das Seil am Halfter in die Hand nehme, um mit dem Tier "zu arbeiten", kann ich mich ganz eindeutig dafür entscheiden, mit vollem Herzen dabei zu sein und alles zuzulassen, was da kommen kann.
Bei mir funktioniert das mittlerweile fast automatisch: im direkten Kontakt mit einem Pferd öffnen sich alle Schleusen, Mauern werden eingerissen, Masken fallen ab. Ich weiß, dass ich hier in diesem Moment ICH sein kann, und ich versuche ein Gefühl zu bekommen - für das Pferd und mit dem Pferd. Es geht darum ein Gefühl zwischen uns herzustellen beziehungsweise entstehen zu lassen. Es darf sich eine Beziehung zwischen dem Pferd und mir entwickeln und ich nehme wahr, welche Qualität und welches "Feeling" diese Beziehung hat. Es geht rein um das Beobachten, Fühlen und Spüren - keine Bewertung, keine extreme Emotionalität, keine Gefühlsausbrüche. Die meisten Pferde öffnen sich dann ebenso und gehen diese Gefühlsverbindung sehr schnell und sehr dankbar ein. Genau daraus kann sich eine tiefe Verbindung und ein alles umfassendes Vielgefühl entwickeln.
An mir selbst habe ich beobachtet, dass es mir bei fremden Pferden oft viel leichter fällt mein Herz voll und ganz zu öffnen. Paradox, oder nicht? Dabei kenne ich doch mein eigenes Pferd viel besser, ich weiß, was mich erwartet... Und genau da liegt das Problem: in den Erwartungen. Es könnte ja auch passieren, dass mein Pferd sich von mir abwendet, just in dem Moment als ich mich ihm gegenüber mit vollem Herzen öffne. Das verletzt mein menschliches Ego. Beim eigenen Pferd spielt so viel mehr mit rein in die Beziehung: längst Vergangenes, (schlechte) Erlebnisse, scheinbare "Enttäuschungen". Vielleicht hat mich mein Pferd aus menschlicher Sicht kürzlich enttäuscht, weil es lieber bei den Kumpels auf der Koppel bleiben wollte, als mit mir zu kommen. Ja, es ist schwer, sich davon frei zu machen! Deswegen fällt es mir persönlich oft leichter in einer komplett unbelasteten Beziehung mein Herz zu öffnen, ganz frei zu sein von allen Erwartungen, von allen Emotionen. Bei mir unbekannten Pferden gibt es noch keine (schlimme) Vergangenheit, keine Geschichte. Daher übe ich die Herzöffnung so oft es geht mit "neuen" Pferden - um dies später jederzeit auf mein Pferd übertragen zu können.
Noch schwerer tue ich mich übrigens im Kontakt mit Menschen. Auf ein mir vollkommen unbekanntes Wesen zuzugehen, mein zu Herz öffnen, mich ohne Maske zu zeigen und nichts von mir verschleiern zu wollen, einfach das Gefühl komplett zuzulassen, auch verletzlich zu sein, genau gelesen zu werden vom Gegenüber, das kann ich praktisch nur bei Tieren zulassen. Menschen gegenüber bin ich noch zu wenig frei von meinen eigenen Gedanken, meiner eigenen Angst: "Was denkt mein Gegenüber von mir, wenn ich x sage oder y mache?".
Das Schöne ist aber: die Pferde helfen mir Tag für Tag dabei, dies in mir zu verändern. Das wunderschöne Gefühl zu erleben, mich einem fremden Wesen gegenüber gänzlich geöffnet zu haben, alles von mir preis zu geben und im Gegenzug ebendies zurück zu bekommen - ich übe weiterhin fleißig, das auch bei Menschen zuzulassen, und die Pferde sind hier wieder einmal Katalysator für meine Persönlichkeitsentwicklung.