Acht Jahre lang filmte Marc Lubetzki wilde Pferde in unterschiedlichen Teilen Europas, zum Beispiel in Portugal, Großbritannien und Bosnien, aber auch in Deutschland. Und nicht nur das: er lebte sozusagen mit den Wildpferden, beobachte und studierte monatelang ihr Herdenleben und ihren Alltag. Aus diesen Erfahrungen, Erlebnissen und Beobachtungen ist sein erstes Buch Im Kreis der Herde – von wilden Pferden lernen entstanden.
Der Titel spricht mich natürlich sofort an, als ich ihn das erste Mal lese. Hatte ich doch selbst das unfassbare Glück, vor sechs Jahren erstmals von echten australischen Wildpferden, sogenannten Brumbies, zu lernen. So viele wichtige Lektionen über das Zusammensein mit Pferden, aber auch über das Leben selbst haben mir die Wilden erteilt. Für diese Erfahrung bin ich bis in die Unendlichkeit dankbar! Unser Fokus lag damals auf dem „Zähmen“ der Tiere. Sie sollten durch Training und Zusammensein mit dem Menschen an diesen gewöhnt werden. So konnten sie vor einer möglichen Tötung gerettet und zum Teil in wunderbare neue Familien vermittelt werden. Was tatsächlich beim Zähmen geschah, war, dass die Pferde uns Menschen ganz viel gelehrt haben: über ihr Wesen, über den Umgang mit dem (ursprünglichen) Pferd, aber auch über uns selbst, unsere Achtsamkeit und Intuition.
Tierfilmer und Wildpferdeexperte Marc Lubetzki liegt es fern, die Pferde auf irgendeine Art und Weise zu beeinflussen oder zu trainieren. Sein Ziel ist es, in den natürlichen Kreis der Herde aufgenommen zu werden, ohne die Tiere von ihrem gewohntem Verhalten und ihren üblichen Aktivitäten abzuhalten. Ohne Irritation von außen gelingt es ihm so, sehr nah am Familienleben der Wildpferde teilzuhaben – selbst in sehr vertraulichen Momenten wie zum Beispiel bei einer Geburt. Umso neugieriger bin ich auf sein Buch. Decken sich seine Beobachtungen mit meinen? Hat er neue, bahnbrechende Erkenntnisse zum Leben und Verhalten wilder Pferde? Können wir diese auf unsere domestizierten Pferde übertragen, und ihnen so vielleicht zu einem (noch) schöneren Leben verhelfen? Und wie stellen wir das am besten an?
Als ich das Werk endlich in Händen halte merke ich: schon alleine das fast quadratische Buchformat mit den Maßen 23,5 x 1,7 x 26,6 cm ist irgendwie „special“ und macht klar, dass es sich weder um ein reines Sachbuch, noch um einen Roman handelt.
In seinem Buch beschreibt Marc zunächst, wie er überhaupt „aufs Pferd“ gekommen ist. Ich als Leser fühle: das, was er da tut, tut er aus Leidenschaft, aus einem inneren Drang heraus. Er möchte selbst Antworten auf seine Fragen zum Pferdeleben und -verhalten finden. In einer (Pferde-)Welt in der so viele Menschen noch immer selbsternannte Gurus kopieren, nur nach „Schema F“ vorgehen oder gar Dinge tun, weil man sie „schon immer“ so tut, empfinde ich das als äußerst wohltuend! Davon wünsche ich mir mehr: Pferdemenschen, die selbst losziehen, um ihre Erfahrungen zu machen, die ihrer inneren Stimme intuitiv folgen. Wohlwissend, dass nicht jede/r die Möglichkeit hat mehrere Monate im Jahr bei wilden Pferden zu leben, wie Marc das tut ☺ Umso schöner, dass er uns teilhaben lässt an seinen Erlebnissen und Erkenntnissen.
Marc legt anfangs dar, wie er es schafft, überhaupt mit einer Herde Kontakt aufzunehmen und letztendlich in die Gruppe eingeladen zu werden. Ich spüre, welche
Ausdauer und Geduld er dabei an den Tag legt. Fingerspitzengefühl par excellence und eine unbändige Leidenschaft sind beim Lesen fühlbar. Als Tierfilmer unterstreicht er seine
Ausführungen natürlich mit wunderschönen Fotografien, die mich als Leserin wirklich fesseln. Besondere Perspektiven und die pure Nähe zu den Tieren – räumlich wie auch
gefühlsmäßig – sprechen mich an, nehmen mich mit. Es sind Bilder, bei denen man denkt, man sei Teil der Geschichte und mitten im Geschehen. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich – den Atem
anhaltend – meine Hand Richtung Pferd(ebild) hebe und zaghaft-sanft über die Seite streiche – das Pferd berühren wollend, ohne es aufzuscheuchen… So trägt mich der Autor auch mit Hilfe seiner
gigantisch-authentischen Fotos durch das Buch, durch zahlreiche abwechslungsreiche, kurzweilige Geschichten über verschiedene Herden. Marc Lubetzki beschreibt dabei das
Verhalten der Wildpferde, ihre Herdenstruktur, ihren Alltag, ihr Leben in unterschiedlichem Terrain, ihre Gewohnheiten, Vorlieben, Bedürfnisse, Freundschaften, und vieles mehr.
Der Verfasser erzählt unter anderem auch, wie sehr das Verhalten unserer Pferde mit ihrem Lebensraum verknüpft ist. Da habe ich den ein oder anderen Aha-Moment, schlicht, weil
ich mir darüber bisher noch nie Gedanken gemacht hatte.
Das letzte Kapitel reißt ganz kurz und knapp an, worauf es bei der Haltung unserer domestizierten Pferde zu achten gilt und welche Herausforderungen wir dabei zu meistern haben. Damit endet das Buch. Hier würde ich mir ein weiteres persönliches Kapitel wünschen, darüber wie Marc Lubetzki das konkret in seinem Alltag, in seiner Haltung und seiner Umgangsform mit seinen Pferden umsetzt. Welche Bedürfnisse er wie erfüllt, und vielleicht auch, wo er noch Potential sieht - ich liebe ja authentische, persönliche Geschichten. Möglicherweise wäre das aber auch eine Idee für eine Erweiterung oder einen zweiten Teil ☺
Zusammengefasst lässt sich mein Eindruck von Im Kreis der Herde so beschreiben:
Während der Lektüre vermisse ich hier und da den ein oder anderen erklärenden Satz. Aber nur, weil das Buch wirklich dazu einlädt, ganz tief in den Geschichten der Pferde zu versinken und ich immer mehr über das Pferdeverhalten insgesamt als auch über die Schicksale der einzelnen Protagonisten erfahren möchte. Beispielsweise als der Althengst eine fremde Stute im besten Alter in die Herde einlädt. "Bei ihr handelt es sich also nicht um eine junge unerfahrene Stute, die leicht zu haben ist. Nein, sie weiß genau, was sie will." Hier frage ich mich, woran erkennt der Autor das? Er beschreibt das Verhalten der Stute und ihre Reaktion auf den Annäherungsversuch des Hengstes. Wahrscheinlich ist es für Marc in dieser Situation ganz offensichtlich und nicht weiter "beschreibenswert", auch, weil er schon genügend wild lebende Stuten, Jung und Alt, beobachten konnte. Ich als Leserin würde mir hier eine tiefergehende Erklärung wünschen, oder den Vergleich dazu, wie eine junge, unerfahrene Stute sich verhalten hätte. Wie wäre die Begegnung dann abgelaufen? Wilder? Emotionaler? Mit weniger Distanz? Wäre eine junge Stute womöglich in der neuen Herde geblieben? Und wieso entscheidet sich die erfahrene Stute am Ende doch für ihre alte Herde?
Bestätigung finde ich in dem Bericht darüber, wie sich Pferde einander annähern. Schon oft habe ich meinen Schülern erklärt, dass eine "straighte", frontale Annäherung für Pferde "untypisch" ist - und das ist definitiv zu einfach ausgedrückt. Dennoch trifft es auf meine Schüler insofern zu, als dass diese ihre Pferde ja schon länger kennen und somit einander nicht mehr fremd sind. Marc konkretisiert: Pferde, die sich gut kennen, nähern sich meist seitlich, berühren sich häufig an der Schulter. Noch vertrauter und einer engen Beziehung vorbehalten ist die behutsame Annäherung von hinten, in Blickrichtung. Die frontale Annäherung ist auch nicht untypisch, nur eben fremden oder sehr losen Kontakten vorbehalten. Das konnte ich in Australien selbst beobachten, als die Herden der wilden Brumbies, mit denen ich dort arbeitete, neu sortiert wurden: da gab es kein vorsichtiges hin- und her-schleichen, sondern ein sofortiges, frontales Aufeinander-zu-Preschen, definitiv mit viel Energie, aber dennoch ohne Aggression.
Besonders gefreut habe ich mich über das ein oder andere Zitat aus dem Buch, z.B.: "Die schönsten Dinge passieren, wenn du überhaupt nicht damit rechnest." Das ist eine Erkenntnis, die ich absolut unterschreiben kann. Ich fühle an Stellen wie dieser regelrecht, wie dem Autor tiefe Wahrheiten, Lebensweisheiten, in sein Bewusstsein rücken - transportiert und ausgelöst, durch die Pferde, durch das Zusammensein mit ihnen. Solche Erfahrungen habe auch ich in Australien mit den Wildpferden gemacht und dadurch tiefe Seeleneinblicke von unschätzbarem Wert gewonnen.
Es ist absolut spannend zu lesen, wie Pferde sich natürlicherweise verhalten, geben und SIND – ohne Beeinflussung durch den Menschen. Da nimmt mich der Autor wirklich hautnah mit und trifft genau meinen Geschmack! Mir gefällt an Marcs Schilderungen sehr gut, dass klar wird: unser lange Jahre propagiertes Bild vom dominanten Leittier, ohne dessen Einverständnis kein Herdenmitglied auch nur einen Fuß irgendwo hinsetzt, ist schlicht und ergreifend falsch! Es wird deutlich, wie sanft und liebevoll ein Leittier führen kann – rücksichtsvoll, auch ein Nein oder einen Gegenvorschlag akzeptierend. Das dürfte jedes auf bloßer Dominanz aufgebaute Trainingssystem aufweichen und in Frage stellen. Und damit meine ich nicht nur Horsemanship-Methoden, sondern das betrifft vor allem und gerade auch die Reitlehre. Besonders schön finde ich auch die Tatsache, dass eine Herde keine anonyme Masse ist: innerhalb des Verbunds wird jedes Pferd als Individuum betrachtet und behandelt. Das wird im Buch definitiv deutlich – so oft frage ich mich, wie es wohl mit den einzelnen Tieren weitergegangen ist, wie es ihnen heute wohl gehen mag... Der Autor schafft es definitiv, mich ganz weit rein zu holen in seine beeindruckenden Begegnungen.
Im Kreis der Herde kann ich definitiv weiterempfehlen. Es zeigt Pferde als große
Lehrmeister in all ihrer Pracht, all ihrer Würde, all ihren Farben und Facetten. Daneben streut der Autor noch die ein oder andere Lebensweisheit ein, die er auf
seinen Reisen und im Zusammensein mit den Herden erkannt hat. Fraglos ein Buch für Pferdemenschen, die mehr über das Verhalten der Pferde lernen wollen und die bereit sind, auch
ihr eigenes Pferd nochmal in neuem Licht zu betrachten. Und die ihr Pferd (endlich) so annehmen möchten, wie es ist!
♥ Noch nicht überzeugt? Lies‘ dir gerne auch die Rezensionen von Jessica Freymark* und Janet Metz*
durch, oder schau' dir an, was Pfridolin Pferd* zum Buch sagt und entscheide dann
☺
Falls du ein JA! zu diesem Werk über Wildpferde spürst: das gebundene Buch erschien am 15. Oktober 2019 im Franckh Kosmos Verlag. Du erhältst es im Buchhandel vor Ort oder online für 30 Euro (ISBN-10: 3440164365 / ISBN-13: 978-3440164365). Wenn du es gerne persönlich magst, kannst du es direkt bei Marc Lubetzki bestellen und bekommst dann eine Ausgabe mit Autogramm des Autors.
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