Die Schwestern Dr. Ruth Katzenberger-Schmelcher und Yvonne Katzenberger sind Gründerinnen der 1. Akademie für Pferdeergotherapie (kurz: PFERGO). In ihrem Fachbuch "Ergotherapie für Pferde: Basissinne schulen - Koordination und Wahrnehmung verbessern" beschrieben sie u.a. bereits die Grundlagen der Ergotherapie für Pferde sowie die Basissinne. Nun ist ihr neustes Werk "Mehr Körpergefühl für mein Pferd: Ergotherapie im Pferdetraining" erschienen. Darin erklären sie Hintergründe und die Theorie zu PFERGO auch für Nicht-Therapeuten. Außerdem werden Übungen und Ansätze zur eigenständigen Umsetzung des Konzeptes gezeigt. Und zwar so, dass sie von jedem Mensch-Pferd-Paar unabhängig von der Reitweise oder sonstigen Trainingsmethoden durchgeführt werden können.
Mit Know-How und Köpfchen zu einer besseren Körperwahrnehmung für das Pferd
Das nötige Know-How bringen die Autorinnen mit: Yvonne Katzenberger ist selbstständige Human-Ergotherapeutin und zertifizierte Reittherapeutin. Dr. Ruth Katzenberger-Schmelcher kommt ursprünglich aus dem wissenschaftlichen Bereich, ist Juristin und Bibliothekarin. Als Pferdetrainerin und reittherapeutische Assistentin arbeitet sie nach dem Prinzip der positiven Verstärkung.
Die ersten Kapitel des Buches befassen sich ausführlich mit der Theorie. Der Leser wird mit Begriffsdefinitionen zu Körpergefühl und
Ergotherapie bei null abgeholt. Das empfinde ich als sehr hilfreich. Auch die drei Basissinne werden vorgestellt. Die Autorinnen gehen kurz und knapp darauf ein, welche Probleme
beim Pferd auftreten können, wenn dieser oder jener Basissinn nicht gut ausgeprägt bzw. geschult ist oder die Reizverarbeitung nicht gut funktioniert. Dieser Abschnitt ist
wirklich spannend und faszinierend! Und doch, ich gebe zu: Nach den ersten Kapiteln raucht mir vor lauter Fachbegriffen der Kopf. Es wird zwar alles so erklärt, dass es auch Nicht-Biologen und
Laien verstehen können. An der ein oder anderen Stelle kämpfe ich mich jedoch durch lange Schachtelsätze, die gespickt sind mit Fachwörtern. Hier und da muss ich einen Satz drei
Mal beginnen, weil ich an seinem Ende schon nicht mehr weiß, wovon am Anfang die Rede war oder ich die Zusammenhänge nicht auf einmal erfassen konnte. Die Hintergründe und Theorie erfordern
durchaus eine gewisse Konzentration und sind nicht mal so eben nebenbei zu lesen. Das ist möglicherweise auch genau so von den Autorinnen gewünscht. Ein gewisser wissenschaftlicher Ehrgeiz ist
durchaus da und lesbar.
Hat man sich durch die ersten Kapitel gekämpft, kann man sich als Leser etwas entspannen und
zurücklehnen. Denn im späteren Verlauf des Buches wird die Sprache einfacher, die Sätze verständlicher.
Den Abschnitt "Verständnis durch Selbsterfahrung" liebe ich besonders! Viel zu oft vergessen wir, dass wir von unseren Pferden und deren körperlicher und mentaler Fitness oft mehr verlangen als von uns selbst. Wir verlieren aus den Augen, dass es eben NICHT selbstverständlich für ein Pferd ist, über eine Stange zu treten oder diffuse Wahrnehmungen auf der Haut (z.B. mit Sprühflaschen, Wasserschlauch etc.) hinzunehmen. Darüber klären die Autorinnen auf und geben drei einfache Übungen für die Selbsterfahrung an die Hand. Wie diese gedanklich auf den Umgang mit dem Pferd und das Reiten übertragbar sind, wird ebenfalls erläutert.
Übungen, die das Körpergefühl des Pferdes schulen
Mit den dann folgenden Übungen für das Pferd, die im Buch ausführlich erklärt werden, soll das Körpergefühl des Pferdes geschult werden. Jede
Beschreibung ist so aufgebaut, dass klar wird, für welches Pferd bzw. welches "Problem" sich die jeweilige Übung eignet. Das benötigte Equipment wird aufgelistet, ebenso der Nutzen für das Pferd.
Jede Übung wird Schritt für Schritt erklärt und es gibt Hinweise, wie die Aufgabe variiert werden kann. Wo nötig erhält der Leser eine Do it yourself Bastelanleitung. Besonders wertvoll: der
PFERGO-Tipp, in dem erklärt wird was zu tun ist, wenn das Pferd andere Ideen hat oder während der Übung ein bestimmtes, nicht unbedingt erwünschtes, Verhalten zeigt. Enthalten
sind im Werk sieben Übungen am stehenden Pferd, sechs Übungen in Bewegung (mit kleinen Bewegungen) sowie sieben Übungen mit etwas mehr Bewegung.
Die einzelnen Übungen an sich sind schon wertvoll für ein verbessertes Körpergefühl beim Pferd. So richtig schön rund wird die Sache dann noch mit den anschließend beschriebenen Kombinationsübungen. Hier werden Abfolgen aus einzelnen Aufgaben erklärt, die in das alltägliche Training eingebunden werden können. Bestimmte Probleme im Pferdetraining können dadurch gelöst oder korrigiert werden. Es gibt Kombinationsübungen zu diversen Problematiken, wie beispielsweise das Rückwärtsrichten zu verbessern, den Raumgriff im Schritt zu erhöhen, Übergänge zu perfektionieren, Kreisbahnen runder zu machen und vieles mehr.
Was bringt pferdeergotherapeutisches Training?
Im inhaltlich letzten Kapitel "Ausblick - Für ein besseres Körpergefühl" fassen die Autorinnen noch einmal zusammen, was es für Pferd und Mensch bringt, die Körperwahrnehmung des Pferdes zu schulen - und das ist eine ganze Menge! Nicht nur das Reiten kann verbessert werden. Natürlich hilft es, das Pferd stressfreier und sicherer unter dem Sattel zu machen, wenn es seinen Körper besser fühlt und seine Beine koordinierter setzen kann. Aber auch auffällige Verhaltensweisen beim Pferd, Schreckhaftigkeit, "Schusseligkeit", Schiefe im Pferd, häufige Verletzungen und vieles mehr können auf eine schlechte Reizverarbeitung und damit eine Unterentwicklung der Basissinne hinweisen. Diese können wie im Buch beschrieben durch Training geschult und ausgebaut werden.
Es macht natürlich Sinn, seinem Pferd selbst zu helfen und die Übungen aus dem Buch sind eine super Ergänzung zum eigenen Pferdetraining. Die Autorinnen weisen jedoch auch auf die Tatsache hin sich bei Bedarf einen geschulten Therapeuten zur Hilfe zu holen. Denn so gut sie auch beschrieben sind: Sie können selbst durchgeführt keinen Therapieersatz darstellen, gerade wenn das Pferd große Probleme haben sollte, die gestellten Aufgaben und Anforderungen zu bewerkstelligen - das sollte klar sein.
Denn: Bei der Lektüre des Buches wird mir noch einmal so richtig deutlich, dass unsere Pferde diese gute Körperwahrnehmung nicht nur im Umgang mit uns Menschen brauchen oder damit wir sie für uns "nutzen" können. Nein, auch im Stallalltag, auch in der ganzen langen Zeit in der wir nicht bei ihnen sind, brauchen sie ein gutes Körpergefühl. Und das zu haben ist eben keine Selbstverständlichkeit! Immer dann, wenn die Pferde Wind und Wetter ausgesetzt sind, wenn es Ecken und Kanten gibt im Stall, wenn sie mit Artgenossen leben usw. brauchen sie eine gute funktionierende Reizverarbeitung. Also tatsächlich immer! Die Übungen aus dem Buch sind somit nicht nur gut für unser Zusammensein mit dem Pferd sondern besonders auch für das Pferd als Individuum - damit es seinen menschenfreien Alltag stressfrei und sicher leben kann.
Mein Fazit zum Buch
Ich bin vom Buch "Mehr Körpergefühl für mein Pferd" begeistert! ☺ Die Theorie wird toll erklärt, wenn auch etwas Konzentration dazu erforderlich ist. Die Übungen sind nachvollziehbar und gut strukturiert aufbereitet, und ich verstehe auch immer das "Warum?" dahinter. Absolut wichtig, wie ich finde! Bei der Lektüre bekomme ich große Lust, kreativ zu werden, zu basteln und mit meinem Pferd loszulegen - und darum geht's schließlich auch. Ist der Mensch nämlich erst einmal motiviert bei der Sache, hat auch das Pferd mit hoher Wahrscheinlichkeit Interesse an einer Zusammenarbeit. ☺
An der einen oder anderen Stelle vermisse ich als wissbegieriger Leser eine genauere Erklärung. Beispielsweise soll man laut Buch bei den Kombinationsübungen mal drei oder vier Runden, mal nur eine Runde im Schritt ganze Bahn einbauen. Dass das sinnvoll ist, ist keine Frage. Nur wann wie viele Runden Sinn machen, dazu hätte ich mir noch eine genauere Ausführung gewünscht. Ebenso dazu, wann ich meinem Pferd anmerke, dass es eine längere Pause braucht oder es ihm zu viel wird.
Das im Buch beschriebene Ampelsystem ist ganz nett - definitiv pferdefreundlich und schonend. Demnach soll man die Übungen nur im grünen Bereich durchführen: sprich, wenn das Pferd keinerlei Stressanzeichen zeigt. Sobald das Pferd in den orangenen Bereich rutscht, also Unwohlsein signalisiert, solle der Anwender die Übung beenden oder zu einem leichteren, für das Pferd angenehmeren Stadium zurückgehen. Wenn Laien die Übungen am Pferd durchführen ist das aus Gründen der Sicherheit total nachvollziehbar und verständlich. Dennoch bezweifle ich, dass es ganz ohne jegliches verlassen der Komfortzone wirklich zu einer nachhaltig spürbaren Verbesserung bzw. Steigerung der Reizverarbeitung kommen kann.
Meine Erfahrungen zur Reizverarbeitung
Ich erlebe das als Besitzerin eines sogenannten "schwierigen Pferdes" immer wieder: schon kleinste, minimalste Anforderungen an mein Pferd können bei ihm Stress verursachen. Mittlerweile ist natürlich nicht mehr der Fall, aber als ich meinen Sharoom kennengelernt habe, war schon eine Hand an seinem Hals an bestimmten Tagen Stress für ihn. Und da musste er durch. Hätte ich jedes Mal die Hand / die Bürste / das Seil / ... sofort weggenommen bei den ersten Stressanzeichen - dann wäre er heute noch Wildpferd. ☺ Selbstverständlich ist das nicht unbedingt etwas, mit dem sich der "Durchschnittspferdehalter" beschäftigen muss. Dennoch plädiere ich wie immer für ein Verlassen der Komfortzone, damit Wachstum möglich ist. Jedoch nur soweit die Sicherheit für Mensch und Tier dadurch gewährleistet werden kann und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines erfahrenen Trainers oder Therapeuten.
Was ich mich bei diesem Buch also nach der Lektüre immer noch frage: Wenn ein Pferd schon bei den kleinsten Anforderungen Stressanzeichen zeigt - wie taste ich mich da vor? Denn ich habe so ein feinfühliges Exemplar im Stall stehen und hätte mir dazu noch mehr Input gewünscht. Quasi ein Kapitel über die wirklich hartnäckigen Fälle. ☺ Denn: Ein Großteil der Pferde mag es schon nicht, "normal" geputzt zu werden. Was, wenn ich keine für das Pferd angenehme Stelle finde? Kann ich dann die Übung gar nicht machen? Mit was fange ich dann an? Berührung mit den Händen? Und wenn das Pferd das auch nicht will? Wie kann beispielsweise der taktile Sinn geschult werden, wenn das Pferd schon bei der kleinsten Berührung Stress zeigt und ich demnach eigentlich gleich wieder aufhören müsste?
Empfehlung für das Buch
An Sharoom habe ich über die Jahre erleben dürfen, wie sehr ihm eine Schulung seiner
Basissinne hilft, in den eigenen Körper zu finden und das ganze Leben, die Umwelt und die Anforderungen des Menschen viel stressfreier zu erleben. Auf seinem Weg zum Reitpferd werden uns
die Übungen aus dem Buch und ähnliche, kreative Ansätze auch weiterhin eine große Hilfe sein. Deshalb kann ich "Mehr Körpergefühl für mein Pferd" von Ruth und Yvonne Katzenberger
wärmstens empfehlen. Es hilft definitiv dabei, die Welt ein bisschen mehr aus der Sicht des Pferdes zu betrachten und scheinbare Selbstverständlichkeiten eben nicht mehr als
selbstverständlich hinzunehmen. Sondern sie entsprechend zu würdigen und dem Pferd zu einem besseren Körpergefühl zu verhelfen.
Hast du jetzt Lust loszulegen und in das Buch zu investieren? Dann Go!
☺ Das Buch erschien am 16. Juli 2020 im Franckh Kosmos Verlag. Du erhältst es im Buchhandel vor Ort oder online für 28 Euro (ISBN-10: 3440167135 / ISBN-13: 978-3440167137). Dafür bekommst du 128 Seiten in einem laminierten Pappband mit 120 Farbfotos und 15 Farb-Illustrationen. Und ganz schön viel Wissen zur Reizverarbeitung des Pferdes.
Hast du noch Fragen zu meiner Buchrezension? Hast du das Buch selbst gelesen und möchtest deine Meinung dazu teilen? Hinterlasse gerne einen Kommentar hier im Blog – ich freu‘ mich darauf! ☺