"Das ist doch nicht zu viel verlangt!"

Was macht dieser Satz mit dir? Was denkst du, wenn du ihn liest? Und noch wichtiger: was fühlst du, wenn du diesen Satz liest?

"Das ist doch nicht zu viel verlangt!"

Ich habe mich vor ein paar Tagen dabei erwischt, wie ich diesen Satz gedacht habe. Sharoom und ich waren am Putzplatz. Es war ein richtig ekliger, nasskalter Novembernachmittag. Der Nebel waberte dicht durchs Dorf und über den Hof. Die Sichtweite war sehr eingeschränkt. Eine seltsame Stimmung lag in der Luft. Irgendwie elektrisch, aber auch ruhig - unheimlich ruhig. Sharoom war extrem angespannt. Von Anfang an wollte er nicht mit zum Putzplatz. Als wir dann mit viel gutem Zureden dort angekommen waren, stand er zunächst keine zwei Sekunden still. Permanent zappelte er hin und her, riss den Kopf nach links und rechts und wieder zurück. Ich versuchte ihn ein wenig zu putzen. Berührung hat hin und wieder die Macht, Sharoom ins Hier und Jetzt und in seinen Körper zu bringen. Irgendwann wurde er ruhig, aber es war keine entspannte Ruhe. Das war überdeutlich spürbar. Viel eher erstarrte er zur Salzsäure. Einzig sein riesengroßes Herzchen klopfte ganz wild und aufgeregt in seiner Brust. Mit bloßem Auge erkennbar. Es flatterte wie verrückt und sprang mir regelrecht entgegen.

Ich wunderte mich gerade noch darüber, was genau ihn jetzt wohl so beunruhigte, da kam im Schneckentempo ein Auto um die Ecke gekrochen. Sharoom erschrak zutiefst, wurde schlagartig einen halben Meter kleiner neben mir, nur um sich dann urplötzlich wieder aufzurichten, den Kopf hoch oben im Nebel, der Hals auf Hochspannung. Nach dem ersten Schreck wurde ich für einen Augenblick wütend. Mit seinen unkontrollierten Bewegungen brachte er mich in Bedrängnis. Ich war genervt von seiner Nervosität, und vor allem von seinem immer noch mangelnden Vertrauen (in mich, aber vor allem ins Leben überhaupt). Nebel, es ist f**king Nebel!!! Ein ganz natürliches Phänomen. Nichts menschengemachtes. Nichts, das ist beeinflussen könnte. Nichts, das ich je von ihm fernhalten könnte. Nichts, das ihn angreift oder ihm schadet. Es war doch nicht der erste Nebel seines Lebens...! Und auch nicht das erste Auto, zumal dieses ja wirklich mit seinem Zeitlupen-Tempo so gar nichts Erschreckendes an sich hatte.

In diesem Moment kam er, der Satz: "Das ist doch nicht zu viel verlangt!" Er schob sich ganz leise aber auch hartnäckig in meinen Kopf. "Das ist doch nicht zu viel verlangt!" Einfach hier am Putzplatz stehen und sich von mir ein wenig verwöhnen lassen - das war mein Plan gewesen. Eben mit Nebel drum herum. Mein Gott! Nichts tun, außer hier stehen...

Trotzig fiel mein Blick auf Sharoom. Es war zwar kaum möglich, aber sein Herz hatte noch an Tempo zugelegt. Es flimmerte nur so vor sich hin. Da wurde es weicher in mir. Versöhnlicher. Ich legte meine Hand auf sein Herz. Ganz zart nur. Aber es reichte. Ich wurde von der vollen Wucht seiner Angst angesprungen. Musste kräftig schlucken. Mein Blick wanderte hoch - wie er da stand, mit weit aufgerissenen Reh-Augen...

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Pferde haben eine feinere Wahrnehmung als wir Menschen - Verständnis sollte selbstverständlich sein.

Da wurde mir glasklar: Was hier und jetzt zu viel verlangt ist, das entscheide doch nicht ich! Wie könnte ich? Mein Pferd kämpft gerade neben mir mit einer tief sitzenden Lebensangst. Wird komplett übermannt davon. Das IST so. Auch wenn mir bis heute der Auslöser ein Rätsel geblieben ist - auch wenn ich weiß, dass es, zumindest aus meiner menschlichen Sicht, keinen Grund dazu gab. Sicher ist: mein Araber macht das nicht mit Absicht. Weil es ihm Spaß macht, mich zu ärgern, zu bedrängen oder zu nerven. In einem Moment wie diesem kann er nicht aus seiner Haut. Auch wenn er sich darin in solch einer Situation kein Stück wohl fühlt. Für ihn ist die Bedrohung real. Er lässt sein Herz nicht willentlich bis zum Anschlag flattern. Wie kann ICH da bestimmen wollen, was für ihn jetzt zu viel ist oder auch nicht? Mein Pferd ist ein lebendes, fühlendes Wesen, mit einer Persönlichkeit und einer Seele. Er weiß, was für ihn okay ist und wann ihm etwas zu viel wird. Und in diesem Fall war es offensichtlich. Das ruhige Stehen am Putzplatz, im Nebel, abseits von seinen Pferdekumpels, war zu dieser Zeit an diesem Ort "zu viel verlangt". Punkt. Ob das für mich als Mensch nun nachvollziehbar ist oder nicht. MIR steht es nicht zu, darüber zu urteilen. Schon gar nicht darüber, was ein anderer empfindet. Das gilt für Mensch und Tier gleichermaßen.

Tatsächlich tut es mir sehr weh, Sharoom so in seiner Panik zu sehen. Er soll an meiner Seite keine Angst spüren müssen. Aber das ist nicht realistisch. Und es hilft weder meinem Pferd noch mir, wenn ich es für diesen extremen Zustand bedauere. Ich kann bitten, motivieren, beistehen. Einen Weg suchen, um gemeinsam Ängste zu überwinden. Aber ich kann diese Ängste weder abnehmen noch mich darüber hinweg setzen. Schon gar nicht, weil "das doch jetzt wirklich nicht zu viel verlangt ist." Diese Erkenntnis war für mich ein Schlüsselmoment.

Heike Gunzenhauser und Sharoom / Persönlichkeitsentwicklung mit Pferd / mit Pferden leben / von Pferden lernen
Auf dem Paddock konnte Sharoom trotz Nebel entspannen.

Vielleicht hilft sie auch dir, wenn du im Alltag mit deinem Pferd (oder auch deinem Kind, deinem Partner...) an Grenzen gerätst, die für den Moment unüberwindbar erscheinen. Nicht immer ist die Lösung ein "Da muss er/sie jetzt durch!" oder ein "Stell dich doch nicht so an!". Ich plädiere bestimmt nicht dafür, Konflikte nur zu vermeiden und immer in der Komfortzone zu bleiben. Es gibt Momente, da trägt uns das Aushalten einer Angst über eben diese hinweg. Wir sollten aber differenzieren, wann wir dazu tatsächlich in der Lage sind und wann uns genau das überfordert. Diese Unterscheidung kann nur derjenige treffen, für den die Angst real ist, der sie in jeder Körperzelle spürt. In meinem Fall war das eindeutig mein Wallach Sharoom. Es war klar: In diesem Moment bringt mich kein Bitten, kein Motivieren und kein Beistehen an mein Ziel. Sharoom war schon völlig gefangen in seiner Todesangst. An entspanntes Putzen und Verwöhnen war nicht zu denken. Im Augenblick der Erkenntnis habe ich mir erlaubt, weich zu werden. Gegenüber ihm, aber auch gegenüber mir selbst. Ich muss keinem beweisen, dass ich eine tolle Pferdefrau bin, die völlig wild gewordene Pferde handzahm und zugänglich machen kann. Ich muss mir selbst nichts beweisen. Und er muss da jetzt nicht durch, wenn er dazu jetzt nicht in der Lage ist. Wir können uns diese Angst auch an einem anderen Tag wieder anschauen, und sehen, ob wir ihr beim nächsten Mal mit mehr Mut begegnen können.

So habe ich mich entschieden, mein Pferd aus dieser Situation und aus seiner Angst zu entlassen. Weil eben alles andere für ihn in diesem Moment zu viel verlangt gewesen wäre. Wir sind gemeinsam zurück zum Paddock, auf dem seine Pferdekumpels schon nach ihm Ausschau gehalten haben. Ich habe ihn am Paddockzaun außen angebunden und ihn dort nochmal gefragt, was er jetzt von putzen und verwöhnen hält. Seine Antwort war eindeutig: Ja! Sharoom war so dankbar! Sofort entspannte er sich, atmete durch, schnaubte, und das Herz beruhigte sich so schnell wie es vorher geschlagen hatte. Innerhalb weniger Minuten döste er vor sich hin. Erleichterung auf allen Ebenen: körperlich wie emotional und seelisch. Bei ihm, aber auch bei mir. Etwas konnte sich lösen. Ich hatte eine richtig gute Entscheidung für mein Pferd getroffen. Und genau das ist es doch, was einen guten Pferdemenschen ausmacht, oder?

Was für eine Beobachtung, was für ein Geschenk! Dieser Satz "Das ist doch nicht zu viel verlangt!" fällt so oft und so spontan, ohne, dass wir uns da je genauere Gedanken darüber machen. Auch gegenüber unseren Kindern, Partnern, Freunden... Ich frage dich nochmal: was fühlst du, wenn du diesen Satz liest? Wenn du ihn hörst, weil ihn jemand zu dir sagt? Oder auch, wenn du ihn selbst zu jemandem sagst? Für mich schwingen da viele Vorwürfe mit, viel Gereiztheit, viel Bewertung. Er macht ein ungutes Gefühl - auf beiden Seiten. Ich habe ihn als Kind wahrscheinlich unzählige Male gehört. Oft in Kombination oder getarnt als "Jetzt stell' dich doch nicht so an!". Ich habe mich danach unzureichend gefühlt, unfähig, nicht gut (genug) so wie ich bin. Heute kann ich mich damit versöhnen. Weil ich mich nie "blöd angestellt habe", sondern weil es anderen überhaupt nicht zustand, zu entscheiden, ob das nun zu viel verlangt war oder nicht. Weil dieser Satz mehr aussagt über denjenigen, der ihn ausspricht, als über denjenigen, der ihn empfängt. Ich fühle mich ein Stück heiler. Freier. Meinem "Pony" sei Dank! ☺

Vielleicht kann meine Geschichte auch dich ein wenig versöhnen und heiler machen. Berichte mir gerne von deinen Erfahrungen und Gedanken zu diesem Thema. Was macht der Satz mit dir? Hinterlasse mir dazu einen Kommentar oder sende mir eine Nachricht. Ich freue mich auch sehr, wenn du den Beitrag teilst, und so ein bisschen mehr Bewusstsein und ein bisschen weniger Beurteilung in unserer Gesellschaft verbreitest.


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Kommentare: 6
  • #6

    Annette (Freitag, 31 Januar 2020 07:39)

    Oh, sehr toll erkannt, gehandelt und für uns super beschrieben. Auch mir ging es schon so, mit mir, mit Kindern und auch mit Pferden, und mir deine o. g. Haltung zu erlauben ist so wohltuend. Danke

  • #5

    Super Sabine (Donnerstag, 30 Januar 2020 09:56)

    WOW! Toll geschrieben und wundervoll reflektiert! Große Hochachtung vor dir und deinem Lehrmeister Sharoom .

    Danke für dein Wirken in der Welt!

    Sabine

  • #4

    Kathrin (Samstag, 23 November 2019 09:24)

    Liebe Heike, auch wenn ich kein Pferd besitze, hat mich Dein Beitrag sehr berührt und ich kann ihn so gut auf Erlebnisse mit meinen Liebsten übertragen. Ja, das ist doch nicht zu viel verlangt. Stelle Dich nicht so an. Diese Sätze kenne ich und ich habe sie oft gefühlt, wenn ich nicht fühlen wollte, dass es meinem Gegenüber nicht so gut geht. Ich wollte ihn glücklich sehen und nicht voller Angst oder Überforderung. Dies ist mir irgendwann bewusst geworden und ich kann die Menschen um mich herum nun immer besser da lassen, wo sie gerade stehen. Und dies bringt so viel Entspannung in unsere Beziehungen. Dies ist total schön zu beobachten. Danke für Deinen Beitrag und Dein Erinnern :-)

  • #3

    Lioba Jung (Freitag, 22 November 2019 19:44)

    Das ist ein toller Text, vielen Dank dafür!

  • #2

    Heike (Donnerstag, 21 November 2019 08:53)

    Liebe Jessica,
    ich danke dir sehr für deinen Kommentar und das Teilen deiner Erfahrung ♥ Dein Beispielsatz ist auch herrlich! :-D Super schön, dass du erkannt hast, welches Programm da abgespult wird und wie du dich selbst da wieder raus holst. Und ich verrate dir noch was, warum du mit deinem Pferd nicht "auch einfach XY machen" kannst, "wie alle anderen auch" - du bist nicht "alle anderen", und dein Pferd ist auch nicht "alle anderen" ;-) Ihr seid einfach EINZIGARTIG, und darum macht ihr die Dinge auch genau so, wie IHR sie eben macht ♥ Sei stolz darauf! Du musst dich überhaupt nicht mit anderen vergleichen - das ist sogar ganz unmöglich ;-) Ich wünsche dir weiterhin ganz viel Freude mit deinem (Pflege-)Pferd und unendlich-liebevolle Momente ♥
    Herzensgrüße mit Vielgefühl
    Heike ♥

  • #1

    Jessica Freymark (Mittwoch, 20 November 2019 17:36)

    Was für ein wundervolles Beispiel für angewandte Achtsamkeit und was es wirklich bedeutet auf die Bedürfnisse des Pferdes zu achten. :) So toll beschrieben und so toll, dass du die Situation für euch beide so schön klären konntest. Ich kenne diesen Gedanken "Das ist doch jetzt nicht zu viel verlangt" allerdings auch. Gerne in Kombination mit "Warum kann ich mit meinem Pferd nicht auch einfach XY machen, wie alle anderen auch." ;) Dann muss ich mir immer wieder bewusst machen, dass ich mein Pferd eben nicht unterdrücken und gefügig machen möchte, sondern eine Freundschaft auf Augenhöhe möchte. Da gehört es eben dazu auf den Pferdefreund zu hören, wenn er sagt, dass er dieses oder jenes eben gerade nicht kann. :)
    Liebe Grüße, Jessica